Ukraine-Krieg: Kriegsende vor Winter – Wie die Waffen schweigen könnten | STERN.de

2022-08-19 21:27:30 By : Mr. shuifa Liu

"Der Winter naht!" Wer die Fantasy-Fernsehserie "Game of Thrones" kennt, der weiß, dass dieser Satz Unheil verheißt. Im wahren Leben graust es vor allem dem ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor der kommenden kalten Jahreszeit. Unter den harten Winterbedingungen weiter Krieg in seinem Land führen zu müssen, das werde der Ukraine viel abverlangen, womöglich zu viel, ist der Präsident überzeugt.

Auf dem G7-Gipfel in Elmau, zu dem Selenskyj per Video zugeschaltet wurde, ließ er mit der Forderung aufhorchen, den Krieg bis Ende des Jahres beenden zu wollen. Um Kämpfe im harten Winter des Landes zu verhindern, soll er von den Staats- und Regierungschefs der reichen G7-Länder eine Kraftanstrengung gefordert haben. Diese sicherten Selenskyj zu, der Ukraine in dem Konflikt mit Russland beizustehen, "so lange das nötig ist". Das klingt nicht danach, dass Joe Biden, Olaf Scholz und Co. an ein Kriegsende noch in diesem Jahr glauben.

Auch Experten sind skeptisch. "Ich gehe davon aus, dass wir ein Ende des Krieges in diesem Jahr nicht mehr erleben werden", sagte der ehemalige Nato-General Egon Ramms kürzlich dem ZDF. Mindestens ein halbes Jahr oder noch länger werde es dauern, bis die Kampfhandlungen endlich endeten. Abhängig sei der Zeitpunkt von der Unterstützung, die der Westen liefere.

Doch wie diese Unterstützung konkret aussehe, sei trotz der Beteuerungen der G7 von Elmau unklar, betonte Militärexperte Carlos Masala im stern-Podcast "Ukraine – die Lage". Klar sei aber: "So wie die Ukrainer jetzt ausgerüstet sind, werden sie es nicht schaffen, im Donbass ihre Stellungen zu halten". Nach und nach seien die überlegenen russischen Kräfte dabei, das gesamte Gebiet einzunehmen.

Die vollständige Einnahme des Donbass könnte allerdings ein Markstein sein, der die Tür zumindest für einen Waffenstillstand öffnet. Zu dieser Einschätzung kommen Christian Mölling und András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Die russische Armee habe bereits weite Teile des Donbass eingenommen und werde sich voraussichtlich vorkämpfen bis die gesamte Region eingenommen sei. "Danach wird die russische Armee jedoch verbraucht sein. Jede weitere strategische Offensive, auch gegen Odessa, ist ausgeschlossen. Daher wird es nach dem Ende der Schlacht um den Donbass auch im Interesse Moskaus sein, eine Form der Deeskalation anzustreben", stellen die beiden Experten fest.

"Dies wird der Zeitpunkt sein, an dem ein Waffenstillstand erreicht werden kann", so Mölling und Rácz weiter. Bis nach Lyssytschansk, der letzten noch nicht eroberten Großstadt in der Oblast Luhansk, haben sich die russischen Truppen bereits vorgekämpft. Auch Kramatorsk in der Donezk-Region steht zunehmend unter Beschuss. Fallen beide Städte, ist der Donbass praktisch komplett in russischer Hand. Dann wird sich zeigen, wie groß die Bereitschaft Wladimir Putins ist, die Waffen (zunächst) schweigen zu lassen. Angesichts der Nachrichten von der Front dürfte die Einnahme der Region innerhalb der nächsten Wochen vermeldet werden – also deutlich vor dem Jahresende. Sollte es zu dem Waffenstillstand kommen, werde dieser weitgehend die bis dahin erreichte Gebietsverteilung zementieren, prophezeien die DGAP-Experten. "Zwar kann die Ukraine den Verlust von Gebieten nicht anerkennen, aber ein vorübergehendes Einfrieren könnte dennoch realistisch sein." 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht dagegen im Moment wenig Chancen für eine diplomatische Beendigung des Ukraine-Kriegs. Es sei "leider zu beobachten, dass Russland mit unveränderter Brutalität den Krieg fortführt", sagte Scholz zum Abschluss des G7-Gipfels. "Wir sind also nicht in der Situation, in der man das Ende absehen kann." Es sei nur absehbar, dass "am Ende irgendwann" eine Vereinbarung der Präsidenten Russlands und der Ukraine stehe – "aber gegenwärtig ist das eben noch nicht der Fall". 

Im Moment gehe es eher darum, den Druck auf Russland aufrecht zu erhalten, "damit ein Ende überhaupt möglich wird und Russland einsieht, dass es keinen Diktatfrieden durchsetzen kann", sagte Scholz. "Es wird also nur einen Ausweg geben, wenn Putin akzeptiert, dass sein Vorhaben nicht gelingt – und das ist das, worum es jetzt geht."

Dabei verfolgten der Westen und die Ukraine durchaus unterschiedliche Interessen, stellt Carlo Masala fest. "Die Ukraine will jede Stadt befreien, sie will auch die Krim befreien. Das ist nicht das Interesse, das die Nato-Staaten verfolgen." Zwar seien auch die Nato-Staaten dafür, dass Russland die Krim räume. "Aber nur als Ergebnis eines Friedensschlusses, nicht als Ergebnis von Kampfhandlungen."

Dass die nach monatelangem Kampf schwer angeschlagenen ukrainischen Truppen bis zum Jahresende alle russisch besetzten Gebiete befreien könnten, erscheint vollkommen ausgeschlossen – selbst wenn es zu einer bisher nicht gesehenen Hochrüstung der Armee durch den Westen kommen würde. Dass Wolodymyr Selenskyj in Elmau ein Kriegsende noch vor dem nächsten Winter ins Gespräch gebracht hat, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er sich ungeachtet öffentlicher Parolen ebenfalls mit Waffenstillstands-Szenerien beschäftigt.

Quellen: Nachrichtenagenturen AFP und DPA, ZDF, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

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