Kann ein Mensch das vergessen? Verschwinden die Schatten der Vergangenheit? Kehrt im Ruhestand wirklich Ruhe ein? Das hat die TZ Ulrich Demmer gefragt – den Mann, der die schwersten Verbrechen im Taunus aufklären und in so manchen Abgrund blicken musste.
Der Blick fällt sofort auf das Schmuckstück des kleinen Gastraums. Chromblitzend, das Schauglas prallgefüllt mit braungerösteten Bohnen steht sie da – die neue Errungenschaft von Ulrich Demmer (63). „Ich kann damit schon einen richtig guten Kaffee machen“, sagt der Mann, der hier an Samstagen und Sonntagen die Ausflügler bewirtet und sich dafür jüngst einen nagelneuen Kaffee-Automaten zugelegt hat.
Demmer hat das kleine Café im ehemaligen Bahnhof Freienfels bei Weilmünster gepachtet, betätigt sich an dem idyllischen Ort seit Mai als passionierter Teilzeit-Gastronom und schwärmt von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, die hier vorbeikommen. Wer sich bei ihm ausruht und stärkt, erhält nicht nur Nahrung für den Körper – der Gastgeber kann auch leidenschaftlich und kenntnisreich aus der spannenden Geschichte der Weiltalbahn erzählen, die seit 1890 auf den Gleisen nebenan ein- und ausfuhr und dann im Jahr 1968 für immer eingestellt wurde.
Das neue Leben des Ulrich Demmer hat viel mit schönen Dingen, musischen Erlebnissen und entschleunigtem Aktiv-Sein zu tun – und unterscheidet sich so sehr von dem, was vorher über lange Zeit seinen Tag bestimmt hatte. 43 Jahre war Demmer im Polizeidienst tätig, zuletzt (seit 2004) als Leiter des K 10 in Bad Homburg. Hinter der Kurzbezeichnung verbirgt sich jene Abteilung, die es mit den schweren Fällen zu tun hat, mit Sexualdelikten, Mord, Totschlag. Und so hat der Vollblut-Kriminalist im Laufe seines Berufslebens Dinge gesehen, die man sich wünscht nie gesehen zu haben. Von zahlreichen Tatorten hat Demmer Bilder und Gerüche in seinem Gedächtnis gespeichert. Als Ermittler hat er entstellte Leichen gesehen, in die Augen verzweifelter Angehöriger geblickt, skrupellose Täter vernommen und immer wieder extremste Situationen erlebt, in denen es galt, die Nerven zu behalten und seinen Job zu machen. Das muss man erst einmal aushalten.
Der Kripo-Mann erinnert sich auch Jahre und Jahrzehnte später noch an jedes der Kapitalverbrechen, die er aufzuklären hatte. Der abscheuliche Mord an einem jungen Mann, der in Friedrichsdorf von einer Clique erschlagen wurde und auf den die Täter anschließend noch urinierten, ist nur einer vielen Fällen, für die Demmer als K 10-Leiter zuständig war. „Man sieht, wozu Menschen fähig sind“, sagt der 63-Jährige nüchtern.
Die Erlebnisse mögen der Vergangenheit angehören, aber endgültig vorbei sind sie für Demmer nicht. „Die Bilder werden zu bestimmten Zeiten wieder nach oben gespült“, erzählt der pensionierte Kripo-Mann, will diese Erfahrung aber nicht überbewertet wissen. „Das geht vielen Tausend Kollegen genauso – und jeder muss auf seine Art mit dem Erlebten zurechtkommen. Einen Königsweg gibt es nicht.“
Als Ruheständler – Demmer ist vor drei Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden – hat er inzwischen Abstand gewonnen. „Es ist vorbei“, sagt er, auch wenn es noch viele offene Fragen zu alten Fällen und manchmal auch neue Spuren gibt. Als Polizist könne ,man Angehörigen von Opfern nie versprechen, das Verbrechen zu 100 Prozent aufzuklären – verpflichtet fühlte er sich dennoch und hat dabei auch ungewöhnliche Wege eingeschlagen. Eine Zeitlang ist Demmer freitags in der Nähe des Altkönigs Joggen gegangen – rund um jene Stelle, an der vor 20 Jahren eine Frau ermordet wurde. Er wollte wissen, wer dort unterwegs ist, ob sich vielleicht doch noch der eine entscheidende Ansatz finden ließe, um den Fall aufklären zu können.
Und dann gibt es ja auch die Fälle, in denen ein Täter ermittelt wurde, die Beweise aber für eine Verurteilung nicht ausreichten. Verliert man da nicht den Glauben an die Gerechtigkeit? „Wo kämen wir denn dann hin“, protestiert Demmer und lässt auf den Rechtsstaat nichts kommen. Welche Folgen es haben kann, wenn Willkür und Unmenschlichkeit herrschen, hat er sehen können; 1999 und 2000, als er im Kosovo war. Als einer von zwei Beamten aus Hessen hat er dort im Rahmen einer UN-Mission geholfen, Leichen auszugraben und zu identifizieren. Eine Aufgabe, die wichtig ist, aber den Einsatzkräften extrem viel abverlangt. Auch diese Bilder kann wohl niemand je vergessen, der sie gesehen hat.
Sein neues Leben scheint davon Lichtjahre entfernt. Demmer betreibt nicht nur sein kleines Café – er restauriert auch gerade ein altes Fachwerkhaus, schwärmt von der Arbeit mit alten Holzbalken, Lehm und Stroh. Zu den dunklen Seiten des Lebens, die er kennenlernte und durchdringen musste, hat Demmer innerlich Distanz gehalten. Wenn er heute darüber spricht, empfindet er das nicht als belastend – im Gegenteil: „Das ist meine Therapie.“